8 Natürlich gibt es auch die exogenen Katastrophen, die passieren einfach. Aber gerade persönliche, politische oder staatliche Krisen sind immer ein Versäumnis, Anpassungen vor- zunehmen, die nötig wären. Obwohl sie teils vorhersehbar sind, ist es im politischen oder sozialen System dann doch nicht möglich, sie zu verhindern. Die Veränderung wird erst möglich, wenn die Krise ausgelöst wurde. AW: Das kann ich bestätigen. Gerade wenn ich an Fälle aus der Corporate World denke, wo sich für ein Unterneh- men eine Rahmenbedingung verändert. Aber es kann auch sein, dass die Ver- änderung von jemandem mit einer gewissen Intention bewusst ausgelöst wird. Gerade im wirtschaftlichen Wettbewerb gibt es strategische Inter- aktionen. Was die Chance des einen ist, kann die Krise des anderen sein. Krisen haben stets eine negative Konnotation, können jedoch auch als Impulsgeber für Fortschritt und Innova- tion dienen. Wie können wir aus Krisen lernen und sie optimal nutzen? LR: Man muss sich bewusst sein, dass in gut entwickelten Systemen eine fundamentale Änderung fast nicht möglich ist, weil der Bedarf nicht gesehen wird, solange alles rund läuft. Da kommt Behavioral Economics ins Spiel. Menschen sind risikoavers und verlustavers. Verluste reduzieren ihr Wohlbefinden normalerweise stärker negativ als Gewinne gleichen Betrags es erhöhen. Und darum haben sie eine Status-Quo-Präferenz. Erst die Krise führt zu einem Zustand, wo eben der Status Quo so unangenehm wird, dass man bereit ist, fundamen - tale Änderungen durchzuführen. Darum braucht es in weit entwickelten gesellschaftlichen Systemen solche Krisen, um grössere Veränderungen hervorzurufen. Sie beide vertreten die Ansicht, dass gerade in Unternehmen viele Krisen «hausgemacht» sind. Wie kann man diese vermeiden? Alexander Wagner ist Professor für Finance an der UZH, Senior Chair am Swiss Finance Institute und Prodekan für Weiterbildung und Alumni. Er interessiert sich besonders für die Reaktionen der Anleger:innen auf Grossereignisse, die Kommuni kation auf den Finanzmärkten und Sustainable Finance. Lukas Rühli ist Senior Fellow und Forschungsleiter Smart Government bei Avenir Suisse und befasst sich vorwiegend mit den politi schen Institutionen der Schweiz, der Klimapolitik und mit Fragen der Daten visualisierung. Er hat an der Universität Zürich Volkswirt schaftslehre studiert. AW: Es gibt verschiedene Ansatzpunkte, wovon mir zwei aus der Forschung und aus meiner praktischen Erfahrung besonders wichtig erscheinen: gute Corporate Governance und die Berück- sichtigung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse. Man kann mit einer guten Governance selten einen Preis gewinnen, aber mit einer schlechten sehr viel zerstören. Doch Krisen können nicht vermieden werden, indem man Boni für Kaderleute verbietet, wie es kürzlich in einer Motion beschlossen wurde. Da geht der Schuss nach hinten los, denn es gibt immer irgendwelche, allenfalls auch nicht-monetäre, Anreize. Zentral ist, wie Menschen auf diese Anreize reagieren. Genauso, wie wir das Autofahren nicht verbieten können, um Unfälle zu vermeiden, können wir nicht schlechte Governance verbieten. LR: Wir müssen akzeptieren, dass Krisen dazugehören. Vor allem zu einem frei- heitlichen Wirtschaftssystem. Wenn man jede Krise ex ante verhindern will, dann schafft man in einem System sehr viel Rigidität, was langfristig zu noch negativeren Resultaten führen kann. AW: Und selbst wenn man es könnte. Es ist einfach prohibitiv teuer, alle Krisen zu vermeiden. Die Aussage ist sehr wichtig und gleichzeitig sehr kontrovers. Da muss man auch sensibel sein gegenüber jenen, die von Krisen betroffen sind. Es ist schwierig, poli- tisch zu kommunizieren, dass es für einen Staat oder ein Unternehmen nicht optimal ist, alles zu tun, um alles zu vermeiden. Welche Rolle spielen das Verhalten von uns Menschen und die Kommunikation in einer Krise? LR: Zur Verhinderung von Krisen aller Art sind Kommunikation, Kooperation und ehrlicher Umgang miteinander zentral. Mitläufertum, Herdendenken, starres Hierarchiedenken und Silodenken sind Dinge, die Krisen eher fördern. Beim Unternehmen hat der Chef einen grossen Einfluss auf die Unternehmens- kultur. Schädlich ist eine Atmosphäre von fehlendem Vertrauen. Wichtig ist eine offene und faire Feedbackkultur. «WENN UNBEQUEME FRAGEN IM UNTER- NEHMEN ERLAUBT SIND, IST DAS EIN ELEMENT VON KRISENKOMPETENZ.» Alexander Wagner Oec. Juni 2023